Arthur und Paula SCHMIDT: 7 jüdische Kinder vor der Gestapo versteckt

Vorbemerkung:

Die Geschichte ist bereits einige (wenige) Male veröffentlicht worden. Der erste war Herbert SCHÜLER, Lehrer in Worin im Bundesland Brandenburg, der die Geschichte der dortigen LPG Mitte der 80er Jahre rekonstruieren sollte und auf ein mit “Geheim” gestempeltes Dokument im SED-Archiv gestoßen war, aber damit nicht viel anfangen konnte: Ein Arthur SCHMIDT habe jüdischen Kindern mit dem Nachnamen WEBER auf seinem Woriner Hof Unterschlupf gewährt und der ehemalige Bürgermeister von Worin, obwohl als Bürgermeister Mitglied in der NSDAP, habe das akzeptiert und sie nicht verraten. Unterschrieben war das Dokument von Alexander WEBER, dem Vater der sieben Kinder. SCHÜLER hatte das Dokument trotz Verbots seitens der Obrigkeit fotokopiert.

Einen ersten kurzen Artikel hatte SCHÜLER noch vor der “Wende” 1988 in der ostdeutschen Zeitung “Neuer Tag” veröffentlicht. Ausführlicher wurde es erst im Jahr 2010 in der “Märkischen Oder-Zeitung” (MOZ), als der älteste Sohn der geretteten WEBER-Familie, Alfons WEBER aus Chicago, der an einem wissenschaftlichen Kongress in Polen teilgenommen hatte, das kleine Dorf Worin und Herbert SCHÜLER besucht hatte. Er wollte mehr über den Ort und den Retter Arthur SCHMIDT erfahren. In seiner “Brief History of the Weber Siblings”, die er 1996 verfasst hatte, taucht der Name nur auf 1 einzigen Seite auf.

Über dieses persönliche Treffen zwischen SCHÜLER und WEBER hatte die “MOZ” berichtet. Nachdem dem Antrag der WEBER-Family auf Anerkennung von Arthur und Paula SCHMIDT von der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte “Yad Vashem” in Israel stattgegeben wurde, gab es 2015 weitere Zeitungsartikel, die darüber berichteten. Drei Jahre später, 2018, nochmals dann über die Ehrung in Jerusalem und die Verlegung von Stolpersteinen in Berlin, da wo die Familie WEBER einst gewohnt hatte. Die Süddeutsche Zeitung hatte im selben Jahr ebenfalls eine ausführliche Darstellung unter dem Titel “Mutige Helden” (Pay-wall) veröffentlicht.

2019 hatte dann die Tochter der jüngsten WEBER-Schwester Bela (Ginger LANE), Beth LANE aus Kalifornien sich auf den Weg nach Europa gemacht, um den noch vorhandenen Spuren nachzugehen, um daraus einen Dokumentarfilm zu machen: "UnBroken - Would You Hide Me?" (Trailer). Mehr Informationen hier.

Wir rekonstruieren die Geschichte erneut, auch mit neuen Informationen, um deutlich zu machen, dass es außer dem miltärischen Widerstand am 20. Juli 1944 auch noch andere Menschen gab, die sich dem Wahnsinn der Nazis und ihrer Millionen Mitläufer widersetzten - durch vergleichsweise kleine Taten. Aber mit großer Wirkung. 


Der Anfang der Geschichte: Berlin

Die Geschichte beginnt in zwei Städten, die - nach Luftlinie gerechnet - 330 Km auseinander liegen. 

1887 erblickt in Berlin ein neuer Erdenbürger die Welt: Arthur SCHMIDT. Er übernimmt in frühen Jahren das väterliche Geschäft “Julius Schmidt”, einen Obst- und Südfruchthandel, der seine Waren in der großen Zentralmarkthalle verkauft: mitten in Berlin gelegenen und in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz. Das pompöse Gebäude ist den Pariser Markthallen nachempfunden. Die “Centralmarkthalle” ("Halle I") ist riesig, bietet Platz für über 1.300 Stände und hat einen direkten Gleisanschluss an die unmittelbar dahinter liegende “Stadtbahn”.

Das Geschäft firmiert unter “Julius Schmidt”, aber alle Inhaber bis zu den heutigen männlichen Nachkommen tragen immer den Vornamen “Arthur” - eine Familientradition. 

Das linke Foto stammt aus der Zeit vor 1900. Das daneben zeigt das heutige Stadtbild: hinter dem Ende des 60er Jahre neu entstandenen Häuserblocks befand sich bis zur “Wende 1989” noch ein Teil der Hallen. 2007 wurde abgerissen und nochmals umgebaut. Heute kündet nur noch das “City Carré” von dem einstmals geschäftigen Treiben der Tausend Händler und ihrem bunten Warenangebot.

Paderborn 1901

In diesem Jahr wird in der (erz)katholischen Domstadt Paderborn, gleichzeitig Sitz eines Erzbischofs, Alexander Johann Josef WEBER geboren. Auch die Familie WEBER gibt sich christlich-katholisch. Sie unterhält in der “Krummen Grube 13” in der Innenstadt und nicht weit vom Rathaus und dem Dom entfernt, einer wuchtigen Kathedrale im romanisch-gotischen Baustil, in ihrem eigenen Haus ein kleines, aber solid funktionierendes Geschäft: Herstellung und Vertrieb von Schirmen und Gehstöcken. Derlei Untensilien, unabhängig davon ob man sie wirklich braucht, gehören zu den unverzichtbaren Assesoires des aktuellen Modetrends.

Alexander ist somit 14 Jahre jünger als Arthur. Beide kennen sich natürlich nicht und es soll noch 37 ganze Jahre dauern, bis sich ihre Wege kreuzen werden. 

Sie sind sich aber in einem Punkt sehr ähnlich. Sie lassen sich nicht ohne weiteres herumkommandieren. Schon garnicht, wenn irgendwelche Anweisungen von oben oder eingeübte Gepflogenheiten keinen Sinn machen.  

Und so ist es Alexander, der im Jahr 1919 mit 18 Jahren aus der (katholischen) Kirche austritt. Warum, das wissen wir nicht so genau, es mag aber ein weibliches Wesen eine Rolle spielen, denn Alexander wird sich sechs Jahre später verloben: mit einer “Zuschneiderin”, die allerdings nicht katholisch, sondern evangelischen Glaubens ist. Sie arbeitet und wohnt im knapp 40 Kilometer entfernten Bielefeld.

1921

Eben dorthin zieht es Alexander im Jahr 1921. Er wird ab sofort im dortigen Einwohnermeldeamt hinsichtlich seiner Religionszugehörigkeit als “Dissident” geführt. Heute würde man das etwa in arabischen Ländern als “Ungläubiger” bezeichnen, aber wie das so ist und immer schon war: gegen Ideologien kommt man schwerlich an, und gefährlich wird es für alle anderen, wenn sich (religiöse) Ideologien mit (Waffen)Gewalt paaren. 

Und so ging es kurz zuvor nicht nur auf den Berliner Strassen recht gewaltsam zu: Rechte gegen Linke und umgekehrt. Ein Jahr zuvor hatten Elitesoldaten einen Putsch gegen die durch die Novemberrevolution geschaffene Weimarer Republik ("Kapp-Putsch") geprobt, parallel dazu kam es im Ruhrgebiet zu einem Aufstand, bei dem die linken Arbeiterparteien die “Diktatur des Proletariats” forderten, aber beides wurde durch Einheiten der Reichswehr niedergeschlagen. Kurz: in Deutschland herrscht teilweise politisches, militärisches und wirtschaftliches Chaos.

In Bielefeld wechselt Alexander WEBER mehrmals seine Wohnung, arbeitet mal hier, mal dort, zieht kurzfristig zurück nach Paderborn, um dann erneut wieder in Bielefeld eine Wohnung anzumieten. 

In Berlin geht Arthur SCHMIDT derweil aufs Ganze: Er lässt seine väterliche Firma ins Handelsregister eintragen: Jetzt nicht mehr “Julius Schmidt”, sondern jetzt heißt das Geschäft “Arthur Karl Schmidt Obstgroßhandel”. Sitz des Unternehmens: nach wie vor in der Zentralmarkthalle, jetzt aber Stand 23, Galerie III. 

Obst und Gemüse gehen immer. Schirme und Stöcke aber nicht und auch der Beruf eines “Kürschners”, wie Alexander ihn ausübt, also die Herstellung von Mänteln, Jacken und Mützen aus Fellen, ist stark konjunkturabhängig, also davon. ob die Leute (genügend) Geld haben oder nicht. Und die nächsten beiden Jahre werden das reine Chaos: die Hyperinflation schlägt zu. Alexander ist davon mehr betroffen als Arthur. Arthur hat einen Hof und Ländereien im 60 Kilometer entfernten Dörfchen Worin. Adresse “Grüner Wald 1”. Direkt an der Landstrasse (heute: "B 1”) zwischen Müncheberg und Seelow gelegen.

Er muss das, was er selbst verkaufen will, nicht anderswo einkaufen. Er verkauft in der Reichshauptstadt Berlin jetzt das, was er selbst in Worin produziert.

2 Hochzeiten

Arthur SCHMIDT ist so beschäftigt, dass er für ein Privatleben kaum Zeit hat. Insbesondere, nachdem der Hyperinflation durch Einführung der “Rentenmark” ein jähes Ende gesetzt werden konnte. Ein halber Liter Bier kostete zuletzt ein halbe Billion (!) Reichsmark in Papierform. Und jetzt, im November 1923, wird für 1 Billion (!) Reichsmark in Papierform 1 “Rentenmark” ausgegeben, die kurz darauf von der neuen “Reichsmark” abgelöst wird. Die neue Währung orientiert sich an den deutschen Goldreserven, die nicht sehr hoch sind, kann also nicht mehr x-beliebig in Papierform nachgedruckt werden. Jetzt läuft alles wieder im Lot. Es beginnt die Ära - wirtschaftlich und kulturell - der sogenannten “Goldenen Zwanziger”.

Nicht so gut läuft es bei Alexander WEBER. Zu Ostern 1925 erscheint in den “Westfälischen Neuesten Nachrichten” im Bielefelder Lokalteil seine Verlobungsanzeige mit einer Lotte DAMBROWSKY, von Beruf “Zuschneiderin” und evangelischer Konfession. Doch kurz danach zerbricht das Verhältnis abrupt. Lotte wird nie heiraten. Alexander flüchtet. Er zieht nach Schweinfurth, bleibt dort aber nicht lange, will Deutschland verlassen, reist nach London und Paris und dann nach Budapest.

In einem kleinen Ort in unmittelbarer Nähe der ungarischen Hauptstadt namens Rakospalota (heute ein Stadtteil von Budapest) trifft er die Frau seines Lebens: Lina BANDA, 27 Jahre alt - eine ausgesprochene Schönheit. Er sieht sie zum ersten Mal, als sie auf dem Weg zum Brunnen ist, um Wasser zu holen.

Alexander verliebt sich auf der Stelle. Und sie ihn ihn. Die Gefühle sind so stark, dass sie heiraten wollen. Auf der Stelle. Aber Alexander muss in Vorleistung gehen. Lina ist die Tochter des jüdischen Kantors der dortigen jüdischen Gemeinde. Und bevor der Vater seine Tochter herausgibt, muss Alexander zum Judentum übertreten. 

Alexander konvertiert. Und nimmt Lina mit nach Deutschland. Nach Paderborn. Will sie seiner Mutter und Geschwistern vorstellen; der Vater ist bereits tot. Doch die sind alles andere als begeistert: Erst tritt Alexander aus der katholischen Kirche aus und jetzt ist er jüdisch und will auch noch eine Jüdin heiraten.

Es kommt zum Bruch. Der nie mehr heilen wird. Alexander gibt nicht klein bei, die Liebe ist stärker. Auch er bricht alle Bande zu seiner Familie ab. Das Verhältnis ist endgültig zerrüttet. Aber er heiratet im Alter von 25 Jahren die um zwei Jahre ältere Lina am 12. September 1926 in Ungarn - ohne die Gegenwart seiner Eltern und Geschwister. Die Ehe wird glücklich. Sieben Kinder werden davon Zeugnis ablegen.

Auch Arthur heiratet. Ein Jahr später im Alter von knapp 40 Jahren. Das Paar wohnt in Arthur's Wohnung in der Alten Schönhauser Strasse 14/15 (siehe Foto), die er schon lange hat. Sie liegt im sogenannten Scheunenviertel nordwestlich vom Alexanderplatz, da wo sich auch die Zentralmarkthalle befindet. 

Dass das Berliner “Scheunenviertel” vor allem eine Wohngegend von jüdischen Menschen ist, die zum großen Teil aus Osteuropa hier Zuflucht suchen, stört Arthur nicht im geringsten. Für ihn heißt “Leben” erstens “selbst leben”, und zweitens “leben lassen”.  

Grenadierstrasse 31

“Leben” - das versucht auch das neue Paar Alexander und Lina WEBER. Sie wohnen jetzt in Dortmund. 1927 kommt ihr erstes Kind zur Welt: Alfons. 1929 ihr zweites: Senta. Doch die Lebensverhältnisse in der alten Arbeiterstadt bieten wenig Perspektiven - die Weltwirtschaftskrise und der New Yorker Börsencrash hinterlassen auch hier tiefe Spuren.

Aussichtsreicher verspricht ein Leben in der Großstadt und so zieht die junge Familie 1930 nach Berlin. Ins Scheunenviertel. In die Grenadierstrasse 31, einer Parallelstrasse zur Alten Schönhauser Strasse. Dort kommen die Kinder Nummer drei und vier zur Welt: Ruth und Gertrud.

Nachwuchs auch bei den SCHMIDT's: Im selben Jahr wie Gertrud WEBER, 1932, wird “Arthur” geboren. Die Kinder beider Familien wachsen im gleichen Milieu des Scheunenviertels auf, nur wenige Meter voneinander entfernt. Das Scheunenviertel hat da schon längst Eingang in die Literatur gefunden. 1923 ist der Roman von Alfred DÖBLIN erschienen: “Berlin Alexanderplatz”. 1929 wurde das Drama “Der Kaufmann von Berlin” des kritischen Publizisten und Satirikers Walter MEHRING uraufgeführt: ein Sittengemälde der Zeit, in der Ostjuden, Hakenkreuzler, Kleinkriminelle und Prostituierte, Wirtschaftsbosse und Kneipiers den Alltag im Scheunenviertel widerspiegeln. 

Im Anmarsch: die Nationalsozialisten

Wie aufgeheizt die Atmosphäre zu dieser Zeit ist, zeigen die Reaktionen auf MEHRING's Drama. Vor der Aufführung bezogen SA-Einheiten Stellung vor dem Theater, um gegen den projüdischen Charakter des Theaterstücks zu protestieren. Joseph GOEBBELS, ehemals Gründer und Herausgeber der NSDAP-Zeitung “Der Angriff”, überschrieb seine Wut über das Stück mit dem Titel “An den Galgen”. 

Noch sind die Nationalsozialisten nur eine große Partei. Und noch agiert die reguläre Polizei als Ordnungsmacht. Und noch spielt sich der Haß auf kommunikativer Ebene ab. Noch. 

Das alles ändert sich 1933, als Adolf HITLER Reichskanzler wird. Kaum sind die Nazis an der Macht, wird “aufgeräumt”, wie es im nationalsozialistischen Sprachgebrauch heißt. Wer jüdisch ist und im Staatsdienst angestellt, wrd auf der Stelle entlassen: Lehrer, Professoren, Richter, Krankenhausärzte und kleine Beamte. Rechtsanwälten wird verboten, arische Deutsche vor Gericht zu vertreten. Jüdische Manager und Wirtschaftsbosse werden angefeindet und unter Druck gesetzt. Der Brauereibesitzer Ignatz NACHER ist nur einer von vielen, die zum Aufgeben gezwungen werden. Und längst haben SA-Braunhemden in Gummistiefeln die Ordnungsmacht Polizei abgelöst. Und im Polizeipräsidium am Alexanderplatz etabliert sich eine neue Abteilung: “Staatspolizei”. Sie wird in Kürze umbenannt: “Geheime Staatspolizei”, kurz “Gestapo”. Eine gigantische “Säuberungswelle” wird losgetreten, Durchsuchungen und Razzien - so wie hier in der Grenadierstrasse - sind an der Tagesordnung:

 

Aber nicht nur Juden sind im Fadenkreuz der Nazis. Auch SPD-ler und alle “Linken”, Kommunisten sowieso, und alle, die sich der neuen “Bewegung” widersetzen, gelten plötzlich als Feind. Und so trifft es auch Alexander, der sich weigert, in der Öffentlichkeit “Sieg, Heil” zu rufen und nicht die Hand zum “Heil-Hitler”-Gruss hebt, und auch noch mit den verhassten SPD-Genossen politisch diskutiert. 

KZ Oranienburg

Alexander wird denunziert und weil er als “Jude” gilt, wird er aufgrund einer gerade neu erlassenen “Verordnung zur Abwehr heimtückischer Diskreditierung der nationalen Regierung”, die später Gesetzesform erlangt ("Heimtückegesetz"), in das ebenfalls gerade neu installierte KZ Oranienburg verfrachtet - das erste offizielle “KZ”, in dem unliebsame Personen “in Schutzhaft” genommen werden, wie es offiziell heißt.

11 ganze Monate lang muss Alexander WEBER dort verbringen. Und Misshandlungen der unterschiedlichsten Arten aushalten. Bei seiner Entlassung Anfang 1934 wird er gezwungen, ein Papier zu unterschreiben, nach dem er gut behandelt und in keinster Weise irgendwie malträtiert worden sei. Außerdem: Ab sofort steht er unter polizeilicher Beobachtung, muss sich jede Woche zwei Mal beim örtlichen Polizeirevier melden - gesteuert von der übergeordneten Polizeibehörde, der Gestapo. 

Das (Über)Leben wird schwieriger

Weil Alexander jetzt im Fokus von Polizei und der übergeordneten Behörde “Gestapo” ist, er dort als ehemaliger “KZ-Häftling” registriert ist, gelingt es ihm nicht, eine feste Arbeitsstelle zu finden. Er muss improvisieren.

Von Hause aus wurden ihm handwerkliches Geschick in die Wiege gelegt. Das nutzt er und macht das, was er heutzutage machen würde: Dinge reparieren und in Ordnung bringen, wenn neue Techniken normalen Menschen das Leben erschweren. In unseren Tagen wären das Computer, WLAN-Anschlüsse und digitale Telefonverbindungen. Zu Alexander's Zeiten sind es vor allem die Radios, auch “Volksempfänger” genannt. Er wird schnell zum Spezialisten. Die Küche zu Hause in der Grenadierstrasse 31 gleicht an manchen Tagen eher einer elektrischen Bastelstube als einem Essplatz, denn es gilt kaputt gegangene Röhren auszutauschen (heute: Chips), Wellenlängen einzustellen (heute WLAN-Verbindungen) und viel anderes. Die Einkünfte aus diesen Tätigkeiten sind unregelmäßig. Nicht einfach für eine stetig wachsende Familie, denn 1935 und 1937 werden die Kinder Nr. 5 (Reni) und Nr. 6 (Judith) geboren.

Für steten Geldfluss sorgt Lina. Sie unterhält ebenfalls ein Mini-Geschäft, repariert Socken, flickt und näht für andere Kleidungsstücke wieder zusammen. Und sie hat vor allem einen ganz wichtigen Job: Sie ist Hauswartin des großen Mietgebäudes, muss die Treppen regelmäßig putzen und am Monatsende für den Besitzer die Mieten kassieren. Dafür darf die WEBER-Familie kostenfrei wohnen zuzüglich eines kleinen Minigehalts. 

Aber das sind nur die finanziellen Probleme. Die größeren werden durch die Umstände verursacht. Für Juden wird das Leben immer schwieriger. Und gefährlicher. Die Kinder, soweit sie zur Schule gehen und am Wochenende in die Synagoge, merken davon nicht so viel. Aber die Eltern machen sich immer mehr Sorgen. Bis zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin halten sich die Nazis und die vielen Mitläufer in den Amtsstuben, Behörden und Unternehmen noch zurück. Doch kaum ist das öffentliche Spektakel zu Ende, werden überall die Daumenschrauben angezogen:

  • Die Nürnberger Rassegesetze “zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre”, 1935 maßgeblich entwickelt und verfasst von einem Ministerialrat, der nach 1945 Konrad ADENAUER's rechte Hand werden wird, verbietet fortan die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr. Verstöße werden als “Rasseschande” mit Gefängnis bestraft.
  • Immer mehr Städte und Kommunen verbieten Juden den Zutritt zu Kinos, Parkanlagen und Gaststätten.
  • Jüdische Lehrer dürfen keinen Privatunterricht mehr an arische Deutsche erteilen.
  • Jüdische Kinder dürfen nicht mehr mit nichtjüdischen Kameraden in ein- und derselben Klasse sitzen.
  • Ähnliches gilt für Krankenhäuser: strikte Rassentrennung.
  • In den Ausweispapieren muss die mosaische Religionszugehörigkeit ausgewiesen sein.
  • Einführung einer jüdischen Kennkarte und vieles andere mehr.

Immer mehr Deutsche jüdischen Glaubens verlassen ihr Land. Noch geht es. Für junge Männer, kräftig und gesund und ohne Anhang, ist es nicht allzu schwierig, ein Land zum Auswandern zu finden. Aber für eine ganze Familie, insbesondere eine große, also Vater, Mutter und (derzeit noch) sechs Kinder, ist dies unmöglich. 

All das hält Lina nicht davon ab, anderen zu helfen. Beispielsweise Menschen, die zur Gruppe der Sinti und Roma gehören und einst in den 20er Jahren vor den Pogromen in ihren Ursprungsländern nach Berlin ins Scheunenviertel geflohen sind. Jetzt wollen sie wieder weg. Sie ahnen, was auf sie zukommen würde. Lina begleitet sie auf den Wegen in die Amtsstuben, wenn sie Ausreisepapiere beantragen. 

Die sogenannte Reichspogromnacht des 9. auf den 10. November 1938, in der sich der Mob auf den Strassen austobt und die Nazis Feuer in den Synagogen legen, übersteht die Familie Weber schadlos. Gleichzeitig ist es das Jahr, in dem Alexander eine feste Anstellung bei einem kleinen Elektroinstallationsgeschäft findet: jetzt hat er ein festes Einkommen. Die Familie nutzt es, in eine größere Wohnung umzuziehen: eine Parallelstrasse weiter in die Dragonerstrasse 48.  

Dragonerstrasse 48

Die neue Wohnung befindet sich im 3. Stock bzw. in der “Zweiten Etage”. Sie ist aufgeteilt für 2 Familien. Alexander, Lina und ihre sechs Kinder - das siebte ist unterwegs - haben jetzt zwei große Zimmer, Flur und Küche und ein Bad mit einem Warmwasserboiler. Die Toilette ist - wie in Berliner Altbauten üblich - auf halber Treppe. 

Im 1. Stock bzw. im Erdgeschoss, auch als “Parterre” bezeichnet, gibt es ein Ladengeschäft, das allerdings nicht als solches genutzt wird. Ein Obst- und Gemüsehändler hat es angemietet, nutzt es quasi als Kühlraum für seine Waren, die am Tag in der Zentralmarkthalle hat nicht verkaufen können. Der Name des Mieters: Arthur SCHMIDT.

Hier kreuzen sich die Lebenswege der beiden Familien zum ersten Mal.

Familie WEBER freundet sich schnell mit Arthur SCHMIDT an. Alfons, der Älteste der Kinder und inzwischen 12 Jahre alt, hilft Arthur abends oft beim Ausladen der unverkauften Ware, manchmal auch die beiden älteren Schwestern, und so kommt man schnell ins Gespräch, man kennt sich jetzt. 

Viel Zeit zum Reden bleibt allerdings nicht. Alexander ist wegen seiner festen Stelle bei Camillo BENSEMANN, Elektromeister und Ingenieur mit seinem Geschäft wenige Häuser weiter in der Dragonerstrasse 25, gut ausgelastet. Zusätzlich zu seinen Reperatur- und Tüftelarbeiten, die er jetzt besser ausführen kann, weil er als Mitarbeiter eines lizenzierten Geschäfts alle Komponenten und Ersatzteile kaufen kann, die er benötigt.

Das "Scheunenviertel" verändert sich

Die Kinder merken es in der (jüdischen) Schule. Immer öfters fehlen Klassenkameraden, die nicht mehr auftauchen. Gleiches spielt sich in den Häusern ab. Bis zum Ausbruch des Krieges schaffen es einige Kinder mit sogenannten Kindertransporten ins Ausland zu emigrieren - aber ohne die Eltern. Auch Alfon's Freund, Noah WIENER aus dem selben Haus gelingt es, im Rahmen einer solchen Aktion, die allerdings nur kurze Zeit währt, nach Belgien auszureisen. Ebenfalls ohne seine Pflegeeltern.

Dass schwarz gekleidete Männer, bekleidet von Polizei oder SS-Schergen, inzwischen ganz offen an Wohnungen anklopfen und Männer, Frauen und Kinder abschleppen, gehört schon fast zum alltäglichen Bild. Jeder hofft, nicht der nächste zu sein. Und so manche kürzen das unerträgliche Warten ab, indem sie Selbstmord begehen.

In die leer gewordenen Wohnungen ziehen nun andere ein: Männer und Frauen aus dem Osten, die von der SS nach Deutschland zur Zwangsarbeit herangekarrt werden.

Alexander ahnt, worauf das hinauslaufen kann. Insbesondere weil er als Radiotüftler ausländische Sender, beispielsweise die BBC einstellen und abhören kann. Das ist allerdings strengstens verboten. Und so zerlegt er jedesmal, wenn er sich abends informiert hat, das Radio ("Volksempfänger") in seine Einzelteile, so dass niemand daraus ein funktionierendes Radio erahnen kann.

Um auf Nummer sicher zu gehen, tritt Alexander WEBER aus der jüdischen Gemeinde aus. Ganz offiziell, mit schriftlicher Kündigung und Bestätigung. Man kann nie wissen. Seinem Glauben bleibt er treu, die Familie, allen voran Mutter Linda, achtet auf die Einhaltung der wichtigsten Gebräuche. 

Gestapo Burgstrasse 28. Und Männer in Schwarz.

Die Aktivitäten von Lina WEBER bei ihrer Unterstützung von unliebsamen Personen sowie ihre kleinen Schwarzmarkttätigkeiten sind dern Polizeibehörden nicht verborgen geblieben. Und auch nicht dem zentralen “Judenreferat” bei der Gestapo in der Burgstrasse am Hackeschen Markt:

 

Ende 1942 wendet sich für die deutschen Soldaten, die sich im blinden Gehorsam ihres “Führers” die Erde untertan machen wollen, das militärische Blatt. Der Kreuzzug gegen die Sowjetunion bleibt vor Moskau stecken und ebenso stockt der Vormarsch der 6. Armee in Stalingrad, wo die deutschen Soldaten eingekesselt werden. Ende Januar 1943 geben sie auf und rund 110.000 geraten in Gefangenschaft, währenddessen sich General PAULUS vom Acker macht. Propagandaminister Joseph GOEBBELS hält kurz darauf im Berliner Sportpapast eine dämonische Rede: “Wollt Ihr den totalen Krieg?” Die Menge jubelt.

Inzwischen tauchen die ersten Juden in Berlin unter, versuchen im Untergrund zu überleben. Das ist kaum machbar, denn Kälte und Hunger sowie die Angst vor dem entdeckt-werden sind ständige Begleiter.

Eine Großfamilie kann nicht untertauchen. Und die Wege zum Emigrieren sind längst versperrt, jetzt bleibt nur noch die Hoffnung.

Zwei Wochen nach der sogenannten Fabrikation Ende Februar geschieht es: Die Gestapo holt Lina ab. Alexander ist auf Arbeit, sechs Geschwister nicht zuhause, nur die kleine 3jährige Bela bekommt mit, wie schwarz gekleidete Gestalten ihr die Mutter wegnehmen. 

Als abends Alexander am späten Nachmittag nach Hause kommt und nur sein jüngstes Kind vorfindet, eilt er auf der Stelle zur Polizei, um sich nach seiner Frau zu erkundigen. Er wird gleich einbehalten: wegen “Judenbegünstigung” - ein Straftatbestand. 

Am nächsten Morgen tauchen in der Dragonerstrasse Angestellte des Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde auf, die im Auftrag der Gestapo alle Kinder abholen. Und ins Jüdische Krankenhaus bringen, das inzwischen einem Gefängnis gleicht - alle Fenster sind vergittert, es gibt kein Entkommen. 

So bleibt es einen ganzen Monat. Alexander wird ständig verhört. Aber er kann sich darauf berufen, dass er nicht mehr jüdisch ist, dass er längst dem Judentum abgeschworen hat. Für die Beamten klingt das erst recht nach “Judenbegünstigung”. Aber sogenannte Mischlingskinder, Halbjuden sozusagen, sind ersteinmal von der Deportation in KZ's ausgenommen. Vorerst. Eine Garantie ist das nicht.

danach

Was unmittelbar danach geschieht, lässt sich nicht mehr exakt rekonstruieren. Die Akten des “Judenreferats” der Gestapo in der Burgstrasse sind vernichtet. Die treuen Staatsdiener haben es selbst getan, als die sowjetischen Truppen vor Berlin standen. Die geheimen Kripobeamten wussten, was sonst geschehen würde. Und deshalb wurde nach 1945 auch so gut wie niemand zur Rechenschaft gezogen. Gegen den ‘Chef’, SS-Obersturmbannführer Otto BOVENSIEPEN, der in dieser Eigenschaft über 50.000 Berliner Juden in den Tod geschickt hat, wird die Staatsanwaltschaft im Jahr 1963 ein Ermittlungsverfahren eröffnen. Sechs Jahre später wird die Hauptverhandlung beginnen. Der Angeklagte erleidet einen Herzinfarkt, der Prozess wird 1971 endgültig eingestellt: wegen Verhandlungsunfähigkeit. Als “SS-Obersturmbannführer” hat er den Dienstrang eines “Oberregierungsrates” und wird deshalb noch 8 weitere Jahre bis zu seinem Tod eine auskömmliche Pension beziehen.

Fest steht jedenfalls, dass Alexander wieder entlassen wird - er ist den Papieren nach kein “Rassejude”, allenfalls ein ”Gesinungsjude". Im Gegensatz zu seiner Frau Lina. Und auch die Kinder kommen wieder raus aus dem Krankenhaus-Gefängnis. Sie lassen sich unmittelbar danach “katholisch” taufen. Ob dies eine Voraussetzung für den Freilassungsdeal war, lässt sich nicht mehr klären - Situationen, in denen sich “Bürokratie nach Vorschrift” (Gestapo) und (Rassen)Ideologie (Politik) überschneiden, lassen sich für niemanden zuverlässig kalkulieren. Am besten, man geht auf Nummer sicher, verlässt sich aber nicht darauf.

Fest steht ebenfalls, dass Alexander seine Ehefrau und die Kinder ihre Mutter nie mehr wiedersehen werden. Lina wird zunächst in ein Arbeitslager in Braunschweig gesteckt, von dort dann nach Auschwitz verbracht. Anfang 1944 kann Alexander bei seinem Polizeirevier eine schriftliche Nachricht abholen: “Lina Sara Weber” ist am 1. Dezember 1943 “um 11 Uhr 35 Minuten” verstorben. Im Krankenhaus in Auschwitz an “Angina”.

Ein Schock. Für die ganze Familie.

Auch für Arthur SCHMIDT.

Er macht Alexander ein Angebot: Er könne alle Kinder mit nach Worin mitnehmen. Keiner würde sie dort vermuten. Und sie könnten sich dort vergleichsweise frei, weil weitgehend abgeschirmt bewegen - sein Hof liege zwar direkt an der Strasse, aber über 1 km entfernt von den Häusern im Dorf:

 

Und so geschieht es.

Die Kinder, 15, 13, 12, 10, 7, 5 und 3 Jahre alt, bauen ihre Doppelstockbetten auseinander, packen einige Kleidungsstücke zusammen und ein paar Dinge zum Spielen und Lesen, aber nicht zuviel. Draussen wartet kein normaler Möbelwagen. Sondern vor der Tür steht der kleine LKW, mit dem Arthur SCHMIDT immer zwischen Berlin und Worin hin- und herfährt. Diesesmal transportiert er eine besondere Fracht: Abends in der Dunkelheit lädt er die ganze Familie auf seinen Truck und fährt mit allen auf seinen ca. 60 km entfernten Hof. Dort gibt es ein Nebengebäude, eine Art Waschküche und dort werden die Betten wieder aufgebaut. Und die wenigen Habseligkeiten, die die Kids, mitnehmen konnten, provisorisch verstaut. 

Aus dem Provisorium sollen fast zwei ganze Jahre werden. Aber darüber macht sich im Augenblick niemand Gedanken. Die Gedanken kreisen um das Gefühl, dass man ersteinmal vor dem Zugriff der Gestapo ‘gerettet’ ist. Und vor dem Bombenhagel, der inzwischen ständig auf Berlin niedergeht. 

Worin

Kinder zu  verstecken, ist nicht so einfach. Bei sieben ist das fast unmöglich. Insbesondere in einer Zeit, in der Polizisten auf den Strassen kontrollieren, um Deserteure oder flüchtende Juden abzufangen, und in der die Einwohnermeldeämter gehalten sind, genau zu registrieren, wer zugezogen oder nicht mehr da ist. Das ist schon deswegen wichtig, weil Einkaufen von Lebensmitteln nur mit speziellen Lebensmittelkarten möglich ist. Wer amtlich nicht erfasst ist, kann auch keine Zuteilung bekommen.

Wie Arthur SCHMIDT es schafft, den Bürgermeister und die Nachbarn zu überzeugen, dass sich auf seinem Hof plötzlich 7 Kinder aufhalten, wissen wir nicht. Und wie er kommuniziert, dass es jüdische bzw. halbjüdische Kinder sind, können wir auch nicht mehr in Erfahrung bringen. Bürgermeister Rudi FEHRMANN ist in seiner Funktion natürlich Mitglied der NSDAP. Und müsste diesen Umstand eigentlich der Polizei melden.

Aber Rudi FEHRMANN hält dicht. Er verrät die WEBER-Kinder nicht. Er unterstützt sie sogar indirekt, indem er ihnen ab und an aus seinen eigenen Beständen Lebensmittel zukommen lässt (siehe das Faksimile). Er begibt sich damit in große Gefahr. So wie auch Arthur SCHMIDT. 

Überleben in Worin

Das Leben jetzt wird für die Kinder schwieriger als vorher. Der Vater und der älteste Bruder sind über der Woche in Berlin, um zu arbeiten und Geld zu verdienen - Alfons als Gehilfe für Alexander. Sie kommen manchmal am Wochenende, zusammen mit Arthur und Paula SCHMIDT im kleinen Lastwagen. Manchmal bleibt der Bruder auch länger, bis er wieder mit seinem Vater zurück nach Berlin fährt.

Niemand trägt mehr den “Judenstern” - ein großes Risiko. Aber die Landwirte in der Umgebung von Worin sind es längst gewohnt, dass Eltern ihre Kinder “auf dem Land” in Sicherheit bringen. So wie auch die beiden Kinder von Rudolf NACHER weiter nördlich von Worin in der Zäckericker Loose unter falschem Namen leben und deswegen überleben werden: www.ansTageslicht.de/Peter

Weil die Kids keine Lebensmittelkarten haben und Bürgermeister Rudi FEHRMANN nur ab und an von seinen rationierten Brot oder manchmal auch etwas Speck abgeben kann, sind die sechs Mädchen Senta (14 Jahre), Ruth (13), Gertrud (11), Reni (8), Judith (6) und Bela (4 Jahre alt), auf sich alleine gestellt. Sie gehen auf die Felder, pflücken Obst und Erdbeeren oder buddeln Kartoffeln aus. Das funktioniert allerdings nur im Sommer. Wenn die kalte Jahrezeit einbricht, müssen die Mädchen bei den Nachbarn betteln gehen, wenn die eigenen Vorräte, die Arthur SCHMIDT und seine Frau Paula am Wochenende aufstocken nicht ausreichen. 

Und so freuen sie sich jedesmal auf das Wochenende, wenn der Vater und der älteste Bruder sowie die beiden SCHMIDT's auf den Hof kommen. Alexander, der Radiotüftler, kommt auch jedesmal mit neuen Informationen über den wirklichen Verlauf des Krieges, die anders lauten als das, was der staatliche Rundfunk unter der Regie des Propagandaministers Josef GOEEBELS an Jubelhymnen verlauten lässt:

Längst sind die sowjetischen Truppen im Anmarsch auf das Deutsche Reich im Osten. Und nach dem 6. Juni 1944, dem sogenannten D-Day, haben Amerikaner und Engländer die Westfront und den “Westwall” geknackt. Sechs Wochen später, am Abend des 20. Juli meldet “Radio London” ein Attentat auf Adolf HITLER, ausgeführt von einer “kleinen Clique”, wie es im deutschen Rundfunk heißt. Allerdings, es ist missglückt, der “Führer” lebt!

Dass der Krieg noch nicht zu Ende ist, merken die Kinder, wenn sowjetische Bomber aus Richtung Osten über ihren Kopf hinwegfliegen mit dem Ziel Berlin. Dort gibt es immer mehr Zerstörung und immer mehr Tote. Im “Oderbruch”, auch als “Märkisch Oderland” bezeichnet, wirkt äußerlich noch alles friedlich. Noch.

Arthur SCHMIDT's zweite Rettung: vor den sowjetischen Truppen

Die Front rückt näher. Ende Januar 1945 stehen die ersten sowjetischen Panzer an der Oder, nachdem sie den östlichen Teil von Deutschland (heute Polen) überrannt haben. Noch wirkt der Fluß als Barriere, denn die Eisschollen erschweren das Übersetzen. Und noch leisten die deutschen Soldaten erbitterten Widerstand, obwohl längst alles verloren ist. Doch das NS-Terrorregime, bestehend aus der politischen Führungselite, den Militärs, Polizei, Gestapo und SS sowie den Tausenden Beamten und Mitläufern, auf die sich die Schreckensherrschaft stützen kann, kennt keine Gnade: Wer nicht bis zum letzten Atemzug kämpft, wird auf der Stelle erschossen oder an einem der nächsten Bäume aufgehängt - als abschreckendes Beispiel.

Aber auch den Sowjets eilen Gerüchte voraus: Vergewaltigungen von Frauen und Kindern.

Arthur SCHMIDT handelt erneut. Als die sowjetischen Soldaten die Oder überquert haben, setzt er sich ohne zu zögern in seinen kleinen LKW und sammelt die WEBER-Kinder ein. Allerdings sind von den sechs Mädchen nur fünf auf dem Hof. Da niemand weiß, wie schnell “der Feind” auf Berlin vorrückt, fährt Arthur SCHMIDT ohne die 15jährige Ruth zurück nach Berlin, wo es - zunächst - sicherer erscheint. 

Als Ruth von einem ihrer Streifzüge am Spätnachmittag zurückkommt und keines ihrer Geschwister vorfindet außer einem Zettel, auf dem steht, dass Arthur alle abgeholt hat, handelt auch sie auf der Stelle. Sie greift sich ein altes Fahrrad, setzt sich drauf und beginnt zu radeln. Sie weiß: immer geradeaus auf der Reichsstrasse Nr. 1. Die führt direkt auf den Alexanderplatz. Und da kennt sie sich aus.

Ruth fährt die ganze Nacht hindurch. Und kommt am nächsten Morgen ohne Schaden in der Dragonerstrasse an. Alle fallen sich gegenseitig in die Arme.

USA

Am 25. April haben die russischen Truppen ganz Berln umzingelt. Wenige Tage zuvor hat sich auf den Seelower Höhen, nur wenige Kilometer vor Worin, eine der dramatischsten Schlachten abgespielt: Mehrere hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten, rund 14.000 Geschütze und ca. 5.000 gepanzerte Fahrzeuge und nochmals die gleiche Anzahl an Flugzeugen haben gegeneinander gekämpft. Die Wehrmacht hat sich ein letztes Mal aufgebäumt. Ergebnis: fast 100.000 Tote innerhalb weniger Tage. Danach war der Weg für die sowjetischen Truppen frei: immer geradeaus auf der Reichsstrasse Nr. 1 direkt auf den Alexanderplatz zu. Das letzte Aufgebot des “Volkssturms” von deutschen Jugendlichen und älteren Menschen können die “Berliner Operation” nicht mehr aufhalten.

Die jüdischen Kennkarten, bis vor kurzem ein negatives Stigma und sichere Garantie für den Abtransport in ein KZ, bedeuten jetzt die Erlösung. 

Alexander sieht seinen langjährigen Traum in Erfüllung gehen: raus aus Deutschland, dem Land, das ihm zwar dank Arthur und Paula SCHMIDT nicht die Kinder, aber seine geliebte Ehefrau Lina genommen hat.

Und so nehmen sie Kontakt mit diversen neuen Behörden und Institutionen auf, nachdem auch die Amerikaner sich einen Teil von Berlin im Tausch mit Thüringen und Sachsen-Anhalts gesichert haben. Damit die Kinder im Rahmen eines Programms der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Agency) in die USA emigrieren können, müssen sie eine Bedingung erfüllen: Sie müssen “Waisen” sein.

Und so geben WEBER-Kinder wahrheitswidrig in den Papieren an, dass sie ohne Mutter und Vater seien. Und so gelangen sie in die endgültige Freiheit. Am 20. Mai 1946 kommen sie im Hafen vorn New York an. An diesem Tag wurde auch dieses Foto gemacht: für die “New York Times”, die über das Schicksal der WEBER-Geschwister berichtet. Im United States Holocaust Memorial Museum gibt es dazu eine elfminütiges Video “Refugees arrive at Ellis Island”, in dem die 7 Kinder zu sehen sind.

Arthur und Paula SCHMIDT: "Gerechte unter den Völkern"

Alexander WEBER wird zehn Jahre benötigen, bis er ebenfalls ein Visum für die Vereinigten Staaten von Amerika bekommt. Dann endlich kann er seinen Kindern nachfolgen, die inzwischen von unterschiedlichen Familien als “Waisen” adoptiert worden sind und unterschiedliche Nachnamen tragen. 

Vorher hat er ein zweites Mal geheiratet. Bevor abreist, gibt er in Castrop-Rauxel im Ruhrgebiet, da wo seine neue Frau herstammt, ein Abschiedsfest. Arthur SCHMIDT erfährt davon. Er ist inzwischen LKW-Fahrer, seine Ländereien sind längst von den Russen enteignet und jetzt ist es eine “Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft” (LPG) mit der Bezeichnung “Thomas Münzer”, die alles bewirtschaftet. Es ist die allererste in der “Deutschen Demokratischen Republik” (DDR), die von den Bauern selbst und nicht staatlicherseits ‘von oben herab’ gegründet worden ist. Und die als Vorbild gelten wird.

Just deren Entstehungsgeschichte sollte Mitte der 80er Jahre der in Worin lebende Herbert SCHÜLER rekonstruieren. Und fand dann in diesem Zusammenhang das eingangs erwähnte und mit dem Stempel “Geheim” versehene Dokument (siehe das obige Faksimile), das den Bürgermeister Rudi FEHRMANN ein lobendes Zeugnis ausstellen sollte. Dem Ex-Bürgermeister nutzte es nichts mehr. Er starb in dem sowjetischen Strafgefangenenlager Ketschendorf in der Nähe von Fürstenwalde, Umstände ungeklärt.

Arthur SCHMIDT jedenfalls startet 1956 seinen LPG-LKW und fährt über die deutsch-deusche Grenze nach Castrop-Rauxel. Er will sich von Alexander verabschieden. 

Drei Jahre später stirbt Arthur SCHMIDT im Berliner St. Hedwigskrankenhaus im Alter von 72 Jahren. Alexander wird noch über 20 Jahre leben, bevor auch ihn der Tod ereilt - in dem Land, in dem jetzt seine sieben Kinder und Enkel leben.

Als Alfons, der Älteste von allen sieben, sich im Jahr 2010 erst nach Polen zu einem wissenschaftlichen Kongress und von dort nach Worin aufmacht, kommt die Geschichte ins Rollen, so wie wir das eingangs beschrieben haben.

Fünf Jahre später, 2015, werden Arthur und Paula SCHMIDT in Israel als “Gerechte unter den Völkern” ("Righteous among the Nations") anerkannt und geehrt. An sie erinnert unter anderem ein Foto, dass die Eheleute SCHMIDT ihm vor seiner Abreise in die USA geschickt hatten:

 

Auf der Rückseite des Fotos ist dies zu lesen:

“Zum ewigen Gedenken an eure Schmidts”.


(JL)

Hinweis: Diese Geschichte lässt sich direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/7Kinder.

Beth LANE, die Tochter der jüngsten Schwester der 7 Geschwister Bela WEBER bzw. Ginger LANE (US-Name), hat die Familiengeschichte in ihrer preisgekrönten Dokumentation rekonstruiert; mehr unter The Weber Family Arts Foundation.