Ilse NEUMANN: In letzter Minute auf dem Weg in die Freiheit

Vom Lehrter Bahnof in Berlin unerkannt nach New York

Vorbemerkung:

Diese Geschichte ist dem Buch “Boykott-Enteignung-Mord. Die Entjudung der deutschen Wirtschaft” aus dem Jahr 1989 von Johannes LUDWIG entnommen und geht hier erstmals online unter dem Permalink www.ansTageslicht.de/In-letzter-Minute


Berlin 1938/1939

Sie hatte es irgendwann doch kommen sehen, aber durchgehalten – „im Andenken an den Vater und um die Ehre dieses Geschäfts zu retten“. Das “Geschäft”: die Fa. Optisches Institut Rudolph Neumann GmbH, eines der großen Berliner Brillen-, Optik- und Fotogeschäfte in der Reichshauptstadt.

Ideal und zentral gelegen: wenige Meter vom Potsdamer Platz und dem großen Bahnhof entfernt, da wo Geschäftsleute den ganzen Tag über ein- und aussteigen und sich die Touristen und Besucher tummeln - neben den vielen und regelmäßigen Stammkunden wichtige Käufer. Und sie hatte Stammkunden, auf die sie gerne verzichtet hätte; die wußten lange Zeit nicht, dass sie in einem jüdischen Geschäft einkauften und sich dort die Fotoabzüge aus ihren Urlauben, Feten zuhause und ihren Kids und allen sonstigen privaten Aufnahmen machen ließen. Zum Beispiel

  • Julius STREICHER, der Judenhasser per se, NSDAP-Gauleiter von Franken und Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“. STREICHER hielt sich oft in Berlin auf, dienstlich.
    Dienstlich gleich um die Ecke in der Prinz-Albrecht-Strasse: da wo sich die Gestapo-Zentrale befand, Hausnummer 8.
  • Auch deren Chef war ständiger Kunde: Heinrich HEYDRICH. Er sollte später zum Leiter des Reichsicherheitshauptamtes aufsteigen.

Elisabeth, genannt Ilse NEUMANN, Tochter von Rudolph, konnte damit leben. Sie wollte nur eines: überleben.

Das Geschäft war ihre Existenzgrundlage. Und lange ging alles gut. Ersteinmal.

Der Name war ihr Schutz. Jedenfalls lange. „NEUMANN“ klingt arisch, nicht jüdisch.

Kleiner Rückblick: 1933

So war es auch am 1. April 1933. Kaum waren die Nazis legal an die Macht gekommen, das Ermächtigungsgesetz war gerade mal eine Woche jung, organisierte die NSDAP und ihre Helfershelfer in Gestalt brauner SA-Horden einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte. Fast überall.

Es war der Beginn unendlich vieler staatlich organisierter Maßnahmen, alles was jüdisch war, unter Druck zu setzen und nach und nach aus dem wirtschaftlichen und öffentlichen Leben auszuschalten. Die Mehrheit der (arischen) Deutschen trugen diese Verfolgungspraktiken mit.

Ilse NEUMANN hatte Glück. In der Filiale der bekannten Optikerfirma “Rodenstock”, das sich direkt gegenüber von Ilse NEUMANN's “Optischem Institut” im traditionsreichen Luxus-Hotel “Fürstenhof” befand, war es anders. Vor den Rodenstock-Filialen standen SA-Männer, verwehrten jedem, der da hineinwollte, den Zutritt. Selbst in dieser internationalen Luxusherberge.

“RODENSTOCK” klingt jüdisch. “NEUMANN” arisch.

Drei Jahre später 1936

Ilse NEUMANN konnte sich mit ihrem Geschäft, das sie mit 10 Angestellten unterhielt und das über sechs große Schaufenster verfügte, die ersten Jahre nach der “Machtergreifung” gut behaupten. Die Olympischen Spiele brachten nochmals scharenweise Besucher, Presseleute, Sportler und Touristen in die Reichshauptstadt. 

Zusätzlich zu ihren Stammkunden, die um die Ecke residierten.

Doch danach ging es abwärts. Der “Führer” und seine Mannen, die mit ihrem olympischen Spektakel die ganze Welt blenden konnten, fühlten sich sicher. Deutschland war weltweit in aller Munde. Mit Respekt blickte der Rest der Welt auf Berlin und Adolf HITLER. Deutschland hatte 89 Medaillen eingefahren, darunter 33 Male Gold. Und mit mit einem großen Vorsprung lagen die deutschen Sportler sogar vor den Vereinigten Staaten von Amerika. Alle anderen Sportnationen folgten weit abgeschlagen. Die Nationalsozialisten konnten sich in ihrem internationalen Image sonnen. Nicht nur sportlich gesehen.

danach

Und so wurde es für viele, die als unerwünscht galten, immer schwieriger zu überleben.

Den Verlust der AOK-Zulassung (Allgemeine Ortskrankenkasse) konnte Ilse NEUMANN noch verkraften. Als aber auch die Polizeiverwaltung und andere staatliche Auftraggeber ausfielen, die hinter diesen Trugschluß ihres Namens natürlich längst gekommen waren, ging der Geschäftsbetrieb zurück: Jetzt waren es nur noch der ganz alte Kundenstamm und Touristen, die sich ihre Brillen und Fotoapparate beim “Optischen Institut Rudolf Neumann GmbH” besorgten.

Ein geplanter Verkauf an ein interessiertes Ehepaar, Arier selbstverständlich, platzte in letzter Minute. Über die potentiellen Käufer hatte Ilse NEUMANN erfahren, daß auf ihre zentral gelegenen Verkaufsräume längst jemand anderes die Hand gelegt und auch bereits einen Vormietvertrag unterschrieben hatte: die Firma “Leder-Stange”, die am Alexanderplatz ein großes Lederfachgeschäft betrieb. Da sich Koffer, Taschen aller Größen und sonstige Reisenutensilien aus Leder in direkter Nähe eines großen Bahnhofs weit besser verkaufen lassen als am Alex, und die Lederfirma aufgrund ihrer Parteibeziehungen auch beim Hausbesitzer die bessere Position hatte, gab Ilse NEUMANN endgültig auf. 

Jetzt war nichts mehr zu retten, auch nicht “die Ehre des väterlichen Geschäfts”, die Ilse NEUMANN zum Durchhalten bewogen hatte.

"Konkursvergehen"

Es ist eine uralte Methode: Wenn staatliche Stellen unliebsame Journalisten oder eine Firma unter Druck setzen wollen, meldet sich entweder das Finanzamt wegen angeblicher Steuerschulden, Polizei und Feuerwehr wegen nicht eingehaltener Sicherheitsvorschriften oder ein Konkursverwalter. So ist es in Russland und anderen autoritär geführten Ländern und so praktizierten es auch die Nazis.

Erst war es die Industrie- und Handelskammer, die eine nicht ordnungsgemäße Beschilderung der Firmenbezeichung monierte, dann kam ein sogenannter Treuhänder, der den ganzen Laden und die Bücher auf den Kopf stellte. 

Am 31. August 1938, 12 Uhr 50 kam der Kaufmann Willy MEYER aus Berlin-Spandau, Schönwalderstrasse 13/14 - im Auftrag des Amtsgerichtsrates Dr. BÜCHERT: als “Konkursverwalter”:

Kriminalpolizei

Nach Herrn MEYER meldete sich Herr SEIDENSTÜCKER. Hermann SEIDENSTÜCKER von der Kriminalpolizei. Wegen “Konkursvergehens”.

Ilse NEUMANN wusste, worauf das hinauslaufen sollte. Schon die ganze Zeit. Die Schlinge für jüdische Deutsche zog sich immer enger zu - ohne dass der Rest der Welt davon Kenntnis nahm. 

Wer als Jude Vermögen im Wert von über 5.000 RM besaß, musste dies den Behörden melden. Wer seinen jüdischen Glauben abgelegt hatte und zur christlichen Lehre "konvertiert" war, musste in seinen Papieren vermerken lassen, dass er vormals "mosaischen Glaubens" war. Jüdische Geschäftsinhaber, so weit sie noch ihre Geschäfte hatten, waren gezwungen, sie als "jüdisch" zu kennzeichnen. In Krankenhäusern wurden ab sofort Juden und Arier in getrennten Räumen untergebracht. 

Eingezogen wurden alle Führerscheine und Kraftfahrzeugzulassungen. Bei der Auswanderung galten restriktive Bestimmungen für Wertsachen und Devisen. Fahrten im Speise- oder Schlafwagen wurde für Juden verboten, jüdische Verlage und Buchhandungen von den Beamten der deutschen Behörden geschlossen.

In vielen Städten hingen inzwischen am Ortseingang Schilder wie beispielsweise "Juden unerwünscht".

Versuche, Deutschland zu verlassen

Ilse NEUMANN hatte bereits vorher still und heimlich beim amerikanischen Konsulat ein Visum für die USA beantragt. Und gleichzeitig einen neuen Pass bei den deutschen Behörden. Von dem Visumsantrag wussten die deutschen Beamten nichts.

Inzwischen versuchten viele jüdische Deutsche ihr Land, in dem sie geboren waren und bisher leben konnten, zu verlassen. Bei mehreren lag der Fokus auf Palestina. Aber dort, einem britischen Mandatsgebiet, kam es immer wieder zu Aufständen der arabischen Bevölkerung gegen die Besatzungsmacht der Engländer. Teilweise aber auch gegen die dort lebenenden Juden, die vereinzelt den Weg dorthin geschafft hatten. Da die Briten, die Palestina verwalteten und kontrollierten, auf der einen Seite offiziell das Recht der Juden bekräftigt hatten, in Palästina eine neue Heimat aufbauen zu dürfen, auf der anderen Seite den Arabern, die bisher unter der Besestzung durch das Osmanische Reich zu leiden hatten, die Unabhängigkeit versprochen hatten, gestatteten sie nur wenigen jüdischen Menschen die Einreise ins “gelobte Land”.

Ilse NEUMANN wollte in die Vereinigten Staaten. Das schien ihr die aussichtsreichste Option. Noch war das möglich. Es fehlte nur noch der neue Pass. Und das Einreisevisum.

Nach der Pogromnacht des 9. November 1938: der neue Pass in letzter Minute

Da das “Optische Institut Rudolf Neumann” von Ilse NEUMANN wegen des Konkursverfahrens längst geschlossen und das neue Geschäft “Leder-Stange” bereits eingezogen war, ging die Pogromnacht an ihr schadlos vorbei. Aber nicht an vielen anderen. Hunderte von Synagogen wurden abgefackelt, jüdische Geschäfte zielgerichtet verwüstet, Tausende von jüdischen Bewohnern verhaftet und in eine sogenannte “Schutzhaft” genommen. Manche kamen zu Tode oder wurden brutal zusammengeschlagen und starben danach. So wie Wilhelm LESSING in Bamberg, ein Geschäftspartner des enteigneten Brauereibesitzers Ignatz NACHER aus Berlin, dessen Geschichte wir an anderer Stelle dokumentiert haben.

Die arischen Deutschen schauten nur zu. Oder gingen ins Konzert oder ins Theater. Oder einfach nur ins Bett.

Ilse NEUMANN war klar, dass es immer enger wurde. Aber sie konnte nichts machen. Nur warten. Einfach nur warten. Und hoffen.

Die Erlösung fand am 29. Dezember kurz vor Jahresende statt. Ein Donnerstag. Sie konnte ihren neuen Pass abholen. Einen, in dem noch nicht der mittlere Name “Sarah” eingetragen und der noch nicht mit einem großen “J” auf der Vorderseite gestempelt war. Am übernächsten Werktag, Montag, den 2. Januar 1939 wäre das nicht mehr der Fall gewesen. Und dann wäre nichts mehr möglich gewesen, schon gar nicht ein Grenzübertritt aus dem Deutschen Reich heraus.

Doch so hielt sie - quasi in letzter Minute - das offizielle Papier in Händen.

Jetzt fehlte nur noch das Visum. Und wieder hieß es warten. Und hoffen.

Und wieder in letzter Minute

Das Warten nimmt sein Ende Ende Februar. Das Einreisevisum in die USA ist da. Ilse NEUMANN ist heilfroh. Das Zittern hat ein Ende. Jetzt muss nur noch die Schiffspassage gebucht werden und wieder ist es ihr arisch klingender Name und der Reisepass ohne das augestempelte “J”, der dies in einem Reisebüro möglich macht.

Und so marschiert sie am 8. März 1939, einem unfreundlich-kalten Freitagmorgen, gegen 8 Uhr nur mit einem kleinen Köfferchen bepackt in Richtung Lehrter Strasse. Den ganzen Weg zu Fuß zum Lehrter Bahnhof. Und hofft, dass sie von niemandem erkannt wird, dass niemand ihren Weg kreuzt, der sie als jüdisch identifizieren könnte. 

Sicherheitshalber hat sie die Nacht in ihrer Heimatstadt nicht zu Hause bei ihrer Großtante verbracht, sondern bei einer guten Freundin in der Schaperstrasse 30 in der Nähe beim Wittenbergplatz. 

Sie hat Glück. Alles klappt. Und auch der Zug startet pünktlich.

Just zur gleichen Zeit, als sie sich um 8 Uhr auf den Weg begibt, klingelt es an ihrer Wohnungstür: Kriminalkommissar Hermann SEIDENTÜCKER. Er kommt wegen des “Verdachts auf Konkursvergehens” und will Ilse NEUMANN ihren erst jüngst ausgestellten Reisepass abnehmen. 

Doch davon weiß zu dieser Zeit Ilse NEUMANN genausowenig, wie umgekehrt der Kripobeamte keine Ahnung von Ilse NEUMANN's Fußmarsch in diesem Augenblick zum Lehrter Bahnhof hat.

(JL)