"Um Haaresbreite": Als die Welt 1983 am Abgrund stand

Vorspann: Was 1983 alles geschah

In Deutschland gelingt den GRÜNEN der Einzug in den Deutschen Bundestag in Bonn: mit 5,6%. Das Bundesverfassungsgericht stoppt die Volkszählung in der geplanten Form. Das Thema “AIDS” wird erstmals vom Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL aufgegriffen und die Illustrierte stern erlebt ihre größte journalistische Pleite: die “Hitler Tagebücher”.

In den USA regiert der ehemalige Hollywood-Schauspieler Ronald REAGAN. Er lässt nach der Ermordung des grenadischen Ministerpräsidenten die kleine Insel Grenada in der Karibik (110.000 Einwohner) durch US-Truppen besetzen, als ihn der nun amtierende Generalgouverneur darum bittet. In der UNO-Vollversammlung wartet Ronald REAGAN mit einer Tonbandaufnahme auf: Er lässt den Funkverkehr zwischen zwei sowjetischen Abfangjägern und ihrer Zentrale in Moskau abspielen. Die hatten eine vom Kurs abgekommene Boeing 747 der Korean Airlines, Flug “KAL 007” über der Insel Sachalin abgeschossen - alle 269 Insassen tot. Aufmerksame Menschen stutzen: Wie können die USA militärische Kommandos der Sowjets abhören? Verfügen die USA über ein entsprechendes Abhörnetzwerk? Jahre später weiß man, dass es genau so ist. Und man kennt jetzt auch den Namen: “NSA” - “National Security Agency”.

Dieses Kapitel lässt sich direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/1983.


Die Rekonstruktion von Dietmar SEHER

Herbst 1983. Nach einem spannungsgeladenen Jahr beginnt die Nato im November vor 40 Jahren ein Atomkriegs-Manöver. In der DDR rollen daraufhin sowjetische Bomber mit Kernwaffen an den Start, SS 20-Raketen werden zum Abschuss vorbereitet. Alles nur ein Irrtum - und ein fast unbekanntes Drama der Zeitgeschichte.

Nördlich von Berlin bei Fürstenberg an der Havel liegt der in der DDR bekannte kleine Ort “Himmelpfort”. Dort gibt es einen Briefkasten mit konkreter Postanschrift, an Kinder ihrer Weihnachtswünsche an den “Weihnachtsmann” schreiben können. Ein alljährlich eingespieltes Ritual in dem sozialistischen Teil Deutschlands, der sich “Deutsche Demokratische Republik”, kurz “DDR” nennt:

Google Maps: Himmelpfort

 

Zwei friedliche Fledermauskolonien fühlen sich in den Grünflächen zu Hause. Vor 40 Jahren aber war alles kriegerischer auf dem Gelände Lychen II. Hier wie in Großenhain südlich der Hauptstadt unterhielten die sowjetischen Streitkräfte in der DDR Sonderwaffenlager. Es ist die Nacht zum 8. November 1983, als die Besatzungen zur Zusatzschicht anrücken. Sie stellen gebunkerte Atomwaffen scharf. Anderswo im Osten Deutschlands rollen Kampfflugzeuge mit Kernwaffen an die Startbahnen. Auf geheimen Abschussplätzen werden 70 der neuen mobilen SS-20 Atomraketen klargemacht, sowjetische Atom-U-Boote müssen sich unter dem Eis der Arktis verstecken. Jurii Andropow, einst KGB-Chef und jetzt mächtiger Kreml-Herrscher seit gerade einem Jahr, hat den höchsten Alarmgrad angeordnet. Potenzielle Angriffsziele sind Städte in Westeuropa, westdeutsche Metropolen und Bonn, die Bundeshauptstadt.

Stunden zuvor hat im Westen die Nato-Übung „Able Archer“ begonnen. Das westliche Bündnis simuliert mit 40.000 Militärs nicht zum ersten Mal Verhalten beim Ausbruch eines Atomkriegs, Funkstille inklusive. Der sowjetische Staats- und Parteichef hält das für eine Täuschung. Seine Nerven sind längst am Ende. Jury Wladimirowitsch ANDROPOV, 69, vormals Chef des Geheimdienstes KGB ist hinfällig. Diabetes und Nierenversagen machen ihm zu schaffen. Gerüchten nach fallen Entscheidungen nur noch am Krankenbett. Das Brisante: Der Sowjetführer hat den Start des Nato-Manövers als Kriegserklärung missverstanden. Er rechnet mit dem nuklearen Erstschlag der USA - und will dem mit dem eigenen Atomangriff zuvorkommen.

Dieser November ist, nur sechs Jahre vor der großen Wende der Weltgeschichte, der nach der Kuba-Krise1962 vielleicht gefährlichste Zeitraum im Kalten Krieg. In einem US-Regierungsbericht von 1990 wird von einer Brisanz „on a hairs trigger“ gesprochen, “um Haaresbreite”. Das Geschehen ist über Jahrzehnte Geheimnis geblieben und heute fast vergessen. Im Herbst 1983 gibt es in Westdeutschland andere Gesprächsstoffe. Waldsterben, die Tagebücher Hitlers im „stern“, die Grünen als Bundestagspartei und der politische Dauerbrenner: Abrüstung. Die Friedensbewegung lockt Millionen Menschen zum Protest auf die Straße. Anders als in früheren spannungsreichen Phasen der Ost-West-Auseinandersetzung wie der Kubakrise 1962 bleiben selbst Politiker ahnungslos, was die Dinge hinter den Kulissen angeht.

Dabei stehen sich in den beiden deutschen Frontstaaten überrüstete Mächte gegenüber. Nach der Einheit fand man Angriffspläne des Warschauer Pakts. Der Ostblock wollte mit vier Millionen Soldaten, 30.000 Panzern, 16 000 Artilleriegeschützen sowie 6.000 Jagdbombern in 30 Tagen von Thüringen durch die Fulda-Senke bis zum Atlantik durchbrechen. In den 1970er Jahren hatte Bundeskanzler Helmut SCHMIDT (SPD) erfahren: In aller Stille baute Moskau östlich der Elbe neue Atomraketen mit dreifacher Zerstörungskraft auf, „sie waren auf deutsche Städte gerichtet“. Der Westen antwortete mit dem Doppelbeschluss: Wenn die SS-20-Raketen nicht verschwinden, stationieren wir in Westdeutschland Pershing II. Geschosse, deren in der UdSSR geschätzte Reichweite den Moskowitern sechs Minuten lassen würden, sich in die Bunker zu retten. Bald sollen die ersten im schwäbischen Mutlangen eintreffen.

Doch während in den 1970er Jahren eine „friedliche Koexistenz“ der beiden gegnerischen Blöcke durch ständige Konsultationen gefestigt werden konnte, ist die Gesprächsbereitschaft Anfang der 1980er am Boden. „Es lief zwischen den Weltmächten nichts mehr. Keine Kontakte. Keine Gespräche“, erinnert sich der außenpolitische Berater des auf SCHMIDT folgenden Bundeskanzlers Helmut KOHL, Horst TELTSCHIK. Vielleicht auch, weil seit 1981 mit US-Präsident Ronald REAGAN und seit 1982 Jurii ANDROPOV - fast parallel zu KOHL's Amtsantritt in Bonn - zwei Hardliner die Supermächte regieren.

Die Töne werden rauer, gefährliche Ereignisse wieder häufiger. Und: "7.000 Grad Celsius am Punkt Null"

  • 1981 
    dringt ein sowjetisches U-Boot mit atomarer Bewaffnung in Hoheitsgewässer des neutralen Schweden ein, nur um dann weiter in einem militärischen Sperrgebiet zu spionieren. Dabei läuft S-363 auf eine Sandbank. Die Schweden beobachten das am frühen Morgen des 27. Oktober und sind beunruhigt. Sie testen ja gerade einen neuen Torpedo-Typ. Da taucht eine sowjetische Flottille auf, wohl um ihr Boot zu befreien. Kommt es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung? Schweden und Sowjets reden miteinander. Zehn Tage später wird S-363 freigeschleppt und kehrt nach Hause zurück.
  • 1982
    hören die 700 Einwohner des nahe der DDR-Grenze liegenden Fleckens Hattenbach in der hessischen Fulda-Senke bei einer Filmvorführung im Gasthof Linde davon, dass ihr Örtchen der „Punkt Null“ der Nato-Planung ist. Im Ernstfall soll hier die erste Atomgranate gezündet werden, um die Rote Armee am erwarteten Durchmarsch bis zur Atlantikküste zu hindern. In einem Film, den die Lehrerin Brunhilde MIEHE aufgetrieben hat, erläutert ein CBS-Reporter, was US-Offiziere bei einem Treffen in Kansas für Hattenbach vorausgesagt haben: „Beim Punkt Null werden mit einer 10-Kilotonnen-Waffe Temperaturen von 7000 Grad Fahrenheit erwartet. Im Umkreis wird nichts mehr da sein. Alles ist buchstäblich weggeblasen“. Als der Projektor abgeschaltet ist, fragt ein geschockter Bürger den Pfarrer Karl-Werner BRAUER: „Glauben Sie noch an Gott?
  • Nicht nur an der Fulda oder vor Schweden, scheint es, treibt vieles dem Overkill zu. 1981 operieren 83 amerikanische Kriegsschiffe vor der zentralen sowjetischen U-Boot-Basis am Eismeer. Die US-Marine testet auch die Leidensfähigkeit des Gegners mit dem Manöver Fleetex vor den Kurilen im Pazifik. Im Frühjahr 1983 nennt der neue US-Präsident REAGAN die Sowjetunion das „Reich des Bösen“ und kündigt die Strategische Verteidigungsinitiative an: SDI. Aus dem Weltraum heraus will er das rote Atomraketen-Potenzial unter Kontrolle bringen. Genauso hart geht der Osten ran. Im Papier zum „Tag X“ wird ausgearbeitet, wie binnen 24 Stunden West-Berlin eingenommen und mit Verhaftungswellen überrollt werden kann. Man holt man das Konzept VRYAN aus der Schublade, das unterstellt, dass der Westen den Atom-Erstangriff vorbereitet und das den eigenen Erstschlag vorsieht. Ostblock-Agenten im westlichen Ausland müssen selbst Banalitäten melden: Ziehen wichtige Amerikaner um? Räumen sie Immobilien oder Parkplätze?
  • 1983
    Der Herbst '83 bringt eine massive Verschärfung. Während die Nato im September Manöver durchführt, mutmaßt Moskau am 1. des Monats einen US-Spionageflug über der zur UdSSR gehörenden pazifischen Halbinsel Kamschatka. Kampfjets starten. Der Auftrag: Abschuß! „Habe Rakete abgefeuert. Ziel zerstört“, meldet ein Pilot. Der getroffene koreanische Zivil-Jumbo, der sich verirrte, stürzt mit 269 Insassen aus 10 000 Metern in die Tiefe. Niemand überlebt. Was zeigt: Ängste und Paranoia steigern die Gefahr von Fehlentscheidungen.

Oberst Stanislav PETROV

Stanislav PETROV im Jahr 2016; Foto: Queery-54, CC-BY 4.0

Während zwei Hardliner in den beiden hochgerüsteten Supermächten Ost wie West an der Macht sind, gibt es - gottlob - Etagen tiefer besonnene Menschen, die ihrem eigenen Verstand trauen. Stanislav PETROV ist einer von ihnen. 

Er ist am 26. Sepetmber 1983 der diensthabende Offizier in der sowjetischen Überwachungszentrale des Luftraums weltweit: in einem besonders gesicherten Bunker ca. 50 Km südlich von Moskau. In Russland ist es kurz nach Mitternacht, alles dunkel. An der Ostküste in den USA hat sich bereits die Dämmerung breit gemacht, in Kalifornien am Pazifik scheint noch die Sonne. Auch in Montana, direkt an der kanadischen Grenze gelegen. Dort sind in der Malmstrom Air Force Base Interkontinentalraketen stationiert. Reichweite: bis zu 12.000 Kilometern. Bewaffnung: Atomsprengköpfe.

Das Infrarotwarnsystem macht auf dem Bildschirm eine US-Rakete am Himmel aus. Dann eine zweite. Eine dritte folgt und plötzlich sind es 5 Signale, die das Warnsystem signalisiert. Das militärisch-nukleare Regelwerk der Sowjetunion sieht vor, bei einem atomaren Angriff sofort die eigenen Atomraketen abzufeuern und zu zünden.

Aber ganze fünf Atomraketen? Würde der kapitalistische Feind einen Atomkrieg mit nur wenigen Interkontinentalraketen beginnen?

Stanislav PETROV kommen Zweifel. Trotzdem: Er muss innerhalb weniger Minuten entscheiden. So sieht es das Regelwerk vor. Zuwiderhandlungen sehen drakonische Strafen vor - sofern solche nach einer atomaren Verwüstung noch eine Rolle spielen können.

PETROV reagiert besonnen, er hält ein solches Szenario für ziemlich unwahrscheinlich, hält die Signale für einen Computerfehler, das installierte System “Kosmos” hat schon einige Male missverständliche Meldungen ausgespuckt. 

PETROV geht von einem Fehlalarm aus. Und: Er gibt die Informationen nicht weiter - die Militärführung der UdSSR macht nicht ihre atomar bestückten Waffen scharf. 

Verzweifeltes Warten, ob die Entscheidung richtig war …

Anerkennung(en)

Jury ANDROPOV, der Hardliner in Moskau, erfährt erst später von dem Vorfall. Und dass das System offenbar Spiegelungen in den Wolken mißinterpretiert hat. Und dass es fatale Auswirkungen hätte haben können. 

In der Sowjetunion spricht niemand darüber, weil es in keiner Zeitung steht. Auch im Westen erst mal nicht. 

Erst Jahre später wird die Geschichte bekannt, als die Mauer fällt. 

In den USA sind es die Hollywood-Schauspieler Robert de NIRO und Matt DAMON, die ihn nach New York einladen und seine einsame Entscheidung würdigen. Im UNO-Hauptquartier wird ihm 2006, also zwei Jahrzehnte später, der “World Citizen Award” verliehen.

Auch in Deutschland und Europa wird sein Verhalten mehrfach gewürdigt. Zum Beispiel in dem Film “The Man Who Saved the World - Wie ein russischer Oberst den Atomkrieg verhinderte” des dänischen Dokumentarfilmers Peter ANTHONY aus 2013, in dem PETROV selbst mit auftritt ebenso wie Kevin COSTNER.